Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster. Antonio Gramsci (1937)

Vorbemerkung des Rezensenten

Der Titel des Aufsatzes «Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion"1 von Axel Adrian hatte mein Interesse geweckt.

Adrian ist Honorarprofessor an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, seine Dissertation über “Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre”2 wurde 2008 mit dem Promotionspreis der Universität ausgezeichnet. Seine Publikationen erscheinen im renommierten Duncker & Humblot Fachverlag in Berlin.

Meine Erwartungen an den Artikel waren entsprechend hoch – und wurden prompt enttäuscht: Der Artikel bietet jede Menge Anlass zur Kritik.

Ich sehe diesen Artikel aber auch als «Opfer» einer systemischen Krise der Rechtswissenschaften und der Rechtstheorie – darüber hinaus als Resultat einer einseitig empirisch und rational orientierten Wissenschaft und einer Vernachlässigung der Geisteswissenschaften bzw. des menschlichen Geists und des Menschen überhaupt.

Dieses Verständnis nötigte mich – nach einer kurzen mentalen Verschnaufpause – zu einer umfassenderen rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Klarstellung von Irrtümern und Unklarheiten. Die Ergebnisse darf ich Ihnen in dieser Serie von drei Blogposts bereit stellen.

Dass sich die Kritik so verdichtet und teilweise an Statler und Waldorf und an die Erregungen von Thomas Bernhard erinnert, war dabei nicht beabsichtigt. Sie liess sich angesichts der noch auszuführenden Schwächen und Inkonsistenzen aber nicht weniger deutlich explizieren.

Sie finden

  • im ersten Teil eine Durchsicht der Problempunkte,
  • im zweiten Teil eine Bewertung der zugrundeliegenden falschen Annahmen, und
  • im dritten Teil eine Reflexion über das falsche Rechtsbewusstsein, das es verdienen würde, gegen ein neues und richtiges ausgetauscht zu werden.

Eine spannende und aussichtsreiche Möglichkeit wäre, die Rechtsinformatik als Handlungswissenschaft auf Basis der Rechtsphänomenologie3 neu aufzusetzen und so Jurist*innen neu für ihre demokratisch essenzielle Funktion zu befähigen, anstatt die Gesellschaft weiter zu technisieren und mit unrealistischen technoiden Phantasien zu drangsalieren, die das Selbstverständnis und Vertrauen von Rechtskundigen unnötig untergraben und demoralisieren.

Auf Reaktionen, die zu einer weiteren Verortung und Vertiefung des vorgefundenen Kritikpunkte und zu einer offenbar notwendigen Neukonzeption von LegalTech und vielleicht der ganzen Rechtsinformatik führen, freue ich mich schon jetzt!

Dr. Peter Ebenhoch 2020-06-27

PS: Dieser Beitrag ist auch als PDF verfügbar.


Falsches digitales Rechtsbewusstsein – LegalTech als «delirium digitalis» (Teil 1/3)

«Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt»

Der Aufsatz umfasst 44 Seiten und hat die Zielsetzung,

  • «ein philosophisches Konzept zur Erklärung von sprachlicher Bedeutung zu liefern, um eine entsprechende Programmarchitektur für einen „Lawbot“ zu entwickeln» (aaO 78).

Er endet, wie so viele prophetische KI-Aufsätze, ohne Ergebnisse, aber mit einem Verweis auf die Zukunft:

  • «Es ist noch ein langer Weg, bis ein solcher Richterautomat einen Turing-Test bestehen kann, aber jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt.» (aaO 121).

Die vom Autor avisierte Flughöhe und seine Absicht, es aus der Perspektive einer «allgemeinen Wissenschaftstheorie» anzugehen, beeindrucken. Schliesslich mangelt es der Rechtstheorie und der Rechtsinformatik schon seit längerem an tragfähigen Überlegungen, um den seit Jahrzehnten vernachlässigten reflektierenden rechtsmethodischen Anschluss an die aktuellen, sich fast überstürzenden digitalen Entwicklungen auch nur ansatzweise wieder herzustellen.

Selbst ambitionierte und über weitere Strecken sinnhafte Vorhaben wie die Einführung der DSGVO 2018 enden in fragwürdigen sinnarmen Verhaltenszwängen für Millionen Menschen, die tagtäglich nervende Cookie-Bestätigungen wegklicken müssen4.

Umso bedauerlicher, dass das Vorhaben des Autors wie eine irrlichternde Rakete an der Vielzahl der von ihm selbst induzierten Widersprüchen scheitert.

Unrealisierbarkeit – nach eigenen Ansprüchen

Gleich zu Beginn gesteht Adrian selbst die Unrealisierbarkeit des in der Überschrift propagierten Anspruchs an, wenn er schreibt (aaO 78, Hervorhebung PE):

“Wenn es am Ende jemals gelingen sollte, die hier vorgestellte Theorie in der Praxis zu testen, wird eine entscheidende Bedingung dafür gewesen sein, dass Mitglieder aus verschiedenen Wissenschaften in der Lage waren, sich „zu verstehen“ und als Team zu kooperieren, was, wie noch zu zeigen sein wird, aus erkenntnistheoretischen Gründen eigentlich gar nicht möglich sein kann.”

Der Autor hält es also nicht einmal für möglich, dass sich «Mitglieder aus verschiedenen Wissenschaften» verstehen. Das sei aber die Voraussetzung dafür, dass sich ein Richterautomat entwickeln lasse. Nun ergibt sich aus der disziplinübergreifenden Verständigung von Wissenschaftler*innen noch lange nicht, dass sich ein Richterautomat entwickeln lässt. Selbst das aber hält er sogar aus erkenntnistheoretischen Gründen für unmöglich! Seine «Theorie» wird sich also selbst nach seiner eigenen Meinung nie in der Praxis testen lassen.

Schon nach der eigenen Meinung von Adrian lässt sich diese Theorie aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht realisieren.

Die eigentlichen und seit Jahrzehnten bekannten Gründe, aus denen sich ein Richterautomat nie verwirklichen wird lassen, kommen hingegen im ganzen Aufsatz erst gar nicht vor. Dazu zählen beispielsweise das Commonsense Knowledge Problem oder das Problem der Word-Sense Disambiguation. Trotz einiger Fortschritte durch leistungsfähigere Datenverarbeitung sind beide Probleme seit den 1960er Jahren ungelöst. Es gibt gute Gründe, dass sie sich aus prinzipiellen konzeptionellen Gründen auch nie lösen werden lassen.

Der unbefangene Rezensent fragt sich, warum der Autor dieser Erkenntnis unverdrossen über 40 weitere Seiten und über 100 Fussnoten hat folgen lassen, wenn er schon zu Beginn feststellt, das seine Theorie unrealisierbar ist und er den überhöhten eigenen Anspruch im Titel (ein Richterautomat ist möglich) nie wird einlösen können, frei nach § 275 BGB impossibilium nulla est obligatio5 .

Schwache Argumentationsarchitektur

Die Schwäche der Argumentationsarchitektur zeigt sich schon in Fussnote 1.

Konstruktivistisch?

Adrian ordnet sich hier konstruktivistisch ein. Darunter versteht er, dass «keinerlei außerhalb von uns selbst vorgegebenen Richtigkeitskriterien […] nutzbar gemacht werden können».

Der Konstruktivismus geht zwar von einer subjektiven Konstruktion von Realität aus. Selbst der radikale Konstruktivismus nach Glasersfeld versteht kognitive Strukturen aber auch als Ergebnis einer Anpassungsleistung im Sinne von Piaget, um Viabilität (Anschluss- und Überlebensfähigkeit) zu ermöglichen. Trotz der vom radikalen Konstruktivismus angenommenen Unmöglichkeit, objektive Realität wahrzunehmen, schliesst dies subjektive sprachliche Kommunikation und Bedeutung nicht in dieser Eindeutigkeit aus, die Adrian im ganzen Aufsatz an mehreren Stellen apodiktisch behauptet.

Pragmatisch?

Seinen philosophischen Ansatz bezeichnet Adrian als pragmatisch […], da (syntaktische) Bedeutung (und Erkenntnis) nur durch eigenes Tun […] erzeugt» werde.

Dieser Ansatz entspricht im Ergebnis gängigen Konzepten für Künstliche Intelligenz Maschinenlernen, die Semantik und Pragmatik durch Syntax substitutieren wollen. Sie führen, wie an anderer Stelle ausgeführt, in einen technischen Autismus6. Wenngleich die in den letzten Jahrzehnten entwickelte hohe Rechenleistung diesen Konzepten enormen Auftrieb gegeben hat, so sind solche Systeme von sich aus nicht aktiv lernfähig7. Diese Ansätze scheitern somit regelmässig daran, neue Situationen richtig einzuordnen. Im Falle der Maschinensteuerung des Uber-Fahrzeugs, das eine Radfahrerin als wehenden Plastiksack einsortierte und nicht in der Lage war, einen Bedeutungszusammenhang zwischen mehreren Sensoreneindrücken zu bilden, führte das inzwischen auch schon zu einer ersten Tötung durch ein autonomes Fahrzeug8: Falsches Fehlendes Bewusstsein tötet.

Nach dem amerikanischen Pragmatismus entsteht Bedeutung und Wahrheit durch Handlungen, durch die sich zeigt, welche Ideen der Realität entsprechen und funktionieren: «truth is what works». James, dem dieses Zitat zugeschrieben wird, spricht sogar vom «Cashvalue of truth» (Barwert der Wahrheit), der entsteht, wenn sich durch ideengeleitetes Tun Handlungsabsichten realisieren lassen9.

«Bedeutung» entsteht aus der Perspektive des amerikanischen Pragmatismus durch die situativ bewirkte Übereinstimmung einer absichtsvoll geladenen Idee mit der Realität.

Symbolisierung und Syntax ermöglichen laut Peirce intersubjektive Kommunikation, sind aber gerade nicht selbst «Bedeutung» (Semantik): Der Ausdruck «(syntaktische) Bedeutung» ist in diesem Kontext deshalb so bedeutungsfrei wie der ganze Aufsatz von Adrian.

Da sich die Theorie selbst nach den Aussagen des Autors nicht realisieren lässt, und da Wahrheit das ist, was funktioniert, ist die Theorie eines Richterautomaten also – auch aber nicht nur – aus Sicht des Pragmatismus offensichtlich falsch.

Die Theorie der Möglichkeit eines Richterautomaten ist falsch.

Adrians «semantikfreie» Gedankengänge

Die Menge der Fussnoten und Referenzen ist beeindruckend (106 insgesamt) – die Liste an unklaren Bezügen, unlogischen und zu weit hergeholten Schlussfolgerungen allerdings auch. Fast scheint es, könnte man spöttisch anmerken, als würde Adrian seine These «Semantik ist eine Illusion» sehr ernst nehmen, ganz nach dem Motto «walk the talk». Er möchte über Wasser gehen, die Fussnoten sind aber keine belastbaren Pontons sondern Bleigewichte, die seine Aussagen heftig in den Abgrund zerren.

Wenigstens gehört es nicht zu Adrians Programm, einige der damals vielversprechenden, inzwischen doch deutlich aus der Zeit gefallenen und immer noch auf Konferenzen stetig propagierten Ansätze für logische Programmierung, Expertensysteme, Thesauri, «Ontologien»10 und Wissensrepräsentationen aus den 1980er Jahren weiter künstlich am Leben zu erhalten.

Diese Ansätze sind alle sinnvoll und berechtigt. Sie sind aber als eng formale und geschlossene top-down Ansätze alles andere als zeitgemäss und tragfähig, um mit den heutigen Umweltbedingungen und juristischen Herausforderungen zu recht zu kommen.

Das wäre ihm hoch anzurechnen gewesen, wenn er seine Positionierung analytisch zu existierenden Ansätzen in Bezug gesetzt hätte. In Fussnote 2 grenzt er seinen Ansatz zwar von einigen Arbeiten zaghaft ab, in Fussnote 3 merkt er dann nur mehr an, dass er sich als Jurist schwer tue, seinen Ansatz einzuordnen – und listet gleichzeitig Referenzen auf, mit denen er sich eben schwer tut.

Das ist schade, denn die Schwächen und mangelnden Umsetzungserfolge vieler dieser mehr als in die Jahre gekommenen rechtsinformatischen Ansätze wären es wert, deutlicher herausgearbeitet zu werden. So behaupten manche dieser Protagonisten (die männliche Form ist hier Absicht) unverdrossen seit Jahrzehnten, dass die seit Jahrzehnten existierenden Ansätze für juristische Ontologien schon funktionieren würden, wenn man halt endlich welche erstellen würde.

Adrian arbeitet demgegenüber sehr gut heraus, dass sich formale Systeme – auf Grund des Gödelschen Unvolständigkeitssatzes – nicht widerspruchsfrei definieren lassen.

Formale Systeme können nicht widerspruchsfrei definiert werden.

Diese erkenntnistheoretische Sackgasse, in der sich einige dieser vor Jahrzehnten eifrig verfolgten Konzepte befinden, stellt er gut im Abschnitt IV dar: Formale Systeme können nicht widerspruchsfrei verfeinert werden und, falls man dies versucht, so steigt die mögliche Variabilität zu stark an (er bezeichnet das als den «Fluch der Dimensionalität»). Eine Einsicht, die zwar schon 1976 im Artikel Destruction and Creation von John Boyd11 differenzierter formuliert worden ist, vielen aber wegen dessen universitätsfernen Kontexts immer noch nicht geläufig sein dürfte.

So ein lucidum intervallum zwischendurch, von denen es sogar mehrere gibt, machen das Kraut aber nicht fett:

Im Ergebnis, wie noch zu zeigen sein wird, galoppiert auch Adrian auf alten Konzepten wie auf einem toten Pferd weiter dahin. Er glaubt letztlich, dass man durch linguistische Textanalyse einen Richterautomaten bauen kann – auch wenn er dabei neblig von «Sprachquanten» spricht. Wie andere Protagonisten glaubt er das vermutlich sogar entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit Händen zu greifenden Widersprüchen selbst. So übersieht auch er die grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Probleme dahinter.

Lebendige Rechtsmethodik lässt sich nicht so einfach auf logische und syntaktische Begriffsnetze beschränken und juristische Denkrealisierung und Klarheit nicht auf diese Weise abbilden.

Der semantische Griff ins syntaktische Klo

Dass Adrian sich ausgerechnet an Peirce vergreift12, um seine Behauptung, dass es keine Semantik gäbe, zu untermauern, ist m. E. nicht entschuldbar und rechtfertigt hoffentlich die allzu derbe Überschrift: Immerhin hat gerade Peirce mit dem triadischen Zeichenbegriff das “Konzept der Zeichenbedeutung” postuliert (Eco zitiert nach Homberger/Wikipedia) und so mit seinem Lebenswerk gerade die Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation, die Adrian verneint, in den Mittelpunkt gestellt.

Peirce steht für die Möglichkeit von Semantik und intersubjektiver Kommunikation.

Das ins Gegenteil zu verkehren, erfordert Chuzpe und wird von Adrian handwerklich so durchgeführt:

  1. Während Peirce und der Mitbegründer des amerikanischen Pragmatismus William James13 den Bewusstseinsstrom als Abfolge von mentalen Zuständen mit bestimmten Qualitäten (also Qualia) konzipieren, entstehen bei Adrian aus diesem lebendigen inneren Reichtum “Aus einem unendlichen Bewusstseinsstrom […] Sprachquanten”, letztlich also Quantität. (Hervorhebung PE)

  2. Sprachquanten? Dieser im Hinblick auf Quanten und Quantencomputer und sich darauf beziehende esoterische Literatur überladene Begriff wird etwas später denkbar banal umrissen: Sprachquanten sind als Menge «an juristischen Büchern, Urteilen und Texten» nichts anderes als juristische Textsorten und Dokumente.

  3. Dieses juristische Schriftgut wird von Adrian im nächsten Abschnitt gnadenlos semantisch entblösst, um es rein quantitativen Datendurchsatzrechnungen zu unterwerfen, in Fussnote 66: «Meine Dissertation hat, wie man durch Nachzählen abschätzen kann, insgesamt nur zwischen 5.000.000 und 6.000.000 Zeichen».

Vom

  • tiefsten inneren Reichtum menschlicher Qualia als Symbol bei Peirce

schliesst Adrian anlasslos und willkürlich auf den Informationsgehalt

  • duch Nachzählen der Zeichen in der eigenen Dissertation!

Tatsächlich muss man angesichts dieses Gedankengangs als Leser*in festhalten, dass bedeutungsarme Argumentationsketten jedenfalls möglich sind.

Adrian beweist zweifelsfrei, dass semantikfreie Schlüsse möglich sind.

Wie sich im nächsten Abschnitt zeigt, glaubt Adrian dann tatsächlich, dass man durch eine computergestützte formal-syntaktische Analyse nach Zeichenketten, (pardon: ein «Fischen nach Sprachquanten») in statischen juristischen Texten «sinnvolle bzw. bedeutsame Sprachquanten bzw. Ketten von Sprachquanten mit Hilfe von Computern sichtbar und handhabbar» machen könne (S 103).

Damit soll – wie in einem phantastischen Zukunftsroman nach Jules Verne – ein Richterautomat befähigt werden, Urteile zu fällen!

Dieser syntaktische Ansatz hatte mit dem Werk Chomskys14 Auftrieb erhalten. Aus seinen Phrasenstrukturgrammatiken entwickelten sich technische Auszeichnungssprachen (Markup) wie SGML, XML und HTML und seit den 1970er Jahren neben klassischen Ansätzen wie der von Salton neue Konzepte für Computerlinguistik und Information Retrieval.

Nach wie vor ist Relevanz und Bedeutung (Semantik) für Computer aber nur indirekt über die Syntax errat- und nie direkt erschliessbar (so schon überzeugend Rijsbergen im persönlichen Gespräch 1995).

Was der linguistic turn nie wollte

Nach Adrians Meinung müsse «Sprache […] zur Gewinnung dieser syntaktischen Struktur [..] nur selbstreferenziell» angewendet werden, da laut Wittgenstein und dem linguistic turn «Bedeutung durch referentielle Bezugnahmen der Sprache auf etwas anderes als Sprache nicht erlangt werden» könne.

Auch hier liegt Adrian schlichtweg falsch, denn diese Interpretation des linguistic turns entstammt am ehesten dem «Höhepunkt in den 50er und 60er Jahren»15. «Gerade wenn man den linguistic turn als einen Paradigmenwechsel hin zur Sprachphilosophie als erster Philosophie versteht, dann ist diese Entwicklung inzwischen eindeutig überholt.» schreibt dazu Grundmann im lesenswerten Sammelartikel «Das Ende des linguistic turn?»16.

Richtig ist, dass der linguistic turn höchstens zu seiner Hochblüte vor 60 Jahren (!) so missverstanden werden konnte, wie Adrian es heute noch tut. Richtig ist aber auch, dass Adrian mit dieser Interpretation heute alleine dasteht und sie einfach auch als falsch bezeichnet werden muss.

Realitätsfreiheit

Schon in Fussnote 1 hat Adrian einen möglichen Bezug zur Realität grundsätzlich verneint (!) und wundert sich später (aaO 85) darüber, dass «einige Juristen immer noch dem Irrtum unterliegen, dass die natürliche Sprache in irgendeiner Art […] mit den Phänomenen der Realität verbunden» sei.

Was die Realitätsfreiheit dieses Artikels betrifft, wenn Sie mir den Sarkasmus verzeihen, dürfte er damit allerdings tatsächlich recht haben.

Aber abgesehen davon, dass die Sprache ja wohl auch ein Phänomen der Realität ist und so in irgendeiner Weise mit dieser verbunden sein müsste: Wie soll das Recht denn ohne Sprache seine Funktion erfüllen?

Man mag ansonsten über die konkrete Art der Verbindung von Realität und Sprache sicher unterschiedlicher Meinung sein, selbst aus einer trockenen systemtheoretischen Sicht nach Art von Niklas Luhmann gibt es die Idee der strukturellen Kopplung zwischen sozialen und psychischen Systemen.

Zwischenbemerkung (Teil 1)

Eine komplette Dokumentation aller fragwürdigen Schlüsse und Annahmen in diesem bemerkenswerten Aufsatz wäre wohl Stoff für einige Aufsätze oder gar ein ganzes Buch. Das sprengt den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen dieses Formats, das ich anlassbezogen ohnehin schon stark ausreizen muss.

Lesen Sie im nächsten Teil der Serie über die rechtsphilosophische und rechtstheoretische Einordnung der beiden falschen Annahmen, dass ein Richterautomat möglich sei und Semantik nur eine Illusion.


  1. Adrian, Axel (2017): «Der Richterautomat ist möglich - Semantik ist nur eine Illusion", Rechtstheorie, Bd. 48 (2017), Heft 1: S. 77–121 ↩︎

  2. Adrian, Axel (2009): Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre", Schriften zur Rechtstheorie, Band 254 ↩︎

  3. Loidolt, Sophie (2010): Einführung in die Rechtsphänomenologie, Mohr-Siebeck. ↩︎

  4. Seuchter / Proßnegg / Beimrohr / Branley-Bell (2020): The Crux of Cookies Consent: A Legal and Technical Analysis of Shortcomings of Cookie Policies in the Age of the GDPR](https://jusletter-it.weblaw.ch/issues/2020/IRIS/2-10_the_crux_of_coo_47da31ce08.html↩︎

  5. Auf Deutsch ungefähr: «Zu etwas Unmöglichem kann man sich nicht verpflichten». ↩︎

  6. Ebenhoch/Gantner (2018): Das Recht in der KI-Falle, Folie 13. Qualia gehen dadurch verloren, es kommt zu einem technischen Autismus↩︎

  7. Da Implementierungen auf dieser Basis wegen ihrer rein formalen Parametrisierung und einer blossen statistischen Korrelationsbasis nicht «mitdenken», nur reproduktiv wirken und keine aktiven Denkvollzüge gestalten können, scheitern sie regelmässig als Ratgeber, es handelt sich eher um «Rategeber». Dazu siehe Gantner, KI und Recht oder das Vertrauensdilemma, Jusletter IT 28. Februar 2020. ↩︎

  8. Ebenhoch/Gantner (2018): Das Recht in der KI-Falle, Folie 21↩︎

  9. James, Williams: Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus (S 37). ↩︎

  10. Im Unterschied zur Ontologie als philosophischem Konzept, das sich mit Grundstrukturen der Wirklichkeit und des Seienden beschäftigt, sind «Ontologien» als Wissenrepräsentation lediglich semantikfreie Definitionsbäume, die logische Verhältnisse zwischen Begriffen abbilden. Vgl. dazu: Dahlberg, Ingeborg (1991): Philosophical foundations of conceptual ordering systems, in: Advances in Knowledge Organizations, Vol 3 (1991); Benediktsson/Fugman/HJerp/Kelm/Meder/Rada/Shreder/Svenionus/Ungvary (Hrsg.), Indeks Verlag, Frankfurt/Main ↩︎

  11. Boyd, John Raymond (1976): Destruction and Creation ↩︎

  12. Peirce, Charles Sanders (1868): Some Consequences of Four Incapacities, Journal of Speculative Philosophy (1868) 2, 140-157. ↩︎

  13. James, Williams (1890): The Principles of Psychology. 2 Bände. Henry Holt and Company, New York 1890, hier Band 1, 336 – «the ‘stream’ of subjective consciousness». ↩︎

  14. Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. Mouton, Den Haag 1957, de Gruyter, Berlin/New York 1989. ISBN 90-279-3385-5 ↩︎

  15. Newen, Albert (2016), in: Das Ende des «linguistic turn»?, Sammelbeitrag, Information Philosophie Heft 4, S 28-38; S 3 (PDF). ↩︎

  16. Grundmann, Albert (2016), in: Das Ende des «linguistic turn»?, Sammelbeitrag, Information Philosophie Heft 4, S 28-38; S 4 (PDF). ↩︎